Buch

Leseprobe "Einfach mal drauflos fahren. Episoden vom Reisen", 2. Auflage 2014, aus dem Kapitel über die Reise nach Pella am Lago d‘Orta

Pella hat es uns angetan. Eine kleine Oase – auch im Vergleich zu Orta. Stundenlang sitzen wir an der Promenade. Tun es den Alten gleich. Setzen uns auf eine Schattenbank. Schauen auf den See hinaus, der sich täglich anders darbietet: die Farben wechseln vom tiefschattigen Grün über aschgraue Blautönungen bis ins Silbrig-Helle. Die Oberfläche kann spiegelglatt, aber auch unruhig wellig und rauh sein. Schon morgens früh gehen wir auf die Promenade. Oft sind wir allein; nach einiger Zeit tauchen die ersten alten Männer auf. Schauen aufs Wasser, als suchten sie ihre verlorene Zeit. Meist kommt eine weißhaarige, alte Dame dazu. Sie wird von allen ehrfürchtig gegrüßt: Signora Elsa. Offenbar der gute Geist von Pella. Freundlich und dezent grüßt sie. Geht die Promenade auf und ab. Und kehrt in ihr Haus zurück.

Der See übt eine eigentümliche Faszination aus. Mal ist es, als würde er einem die eigene Stimmung widerspiegeln; dann wieder kommt es einem vor, als würde er diese erst erzeugen. Man kommuniziert mit ihm. Gerät ins Sinnieren. Oder schaut auch nur; ist irgendwie emotional beteiligt; ganz demütig. Erhaben liegt er da, umgeben von Bergen. Die Stimmung, die einen am See erfasst, gleicht einem behäbig ausuferndem Andante; langsame, epische Klänge sind darunter; aber auch aufbrausende Schlussakkorde. Die umliegende Landschaft mutet arkadisch an; und in der Tat ist man an Griechenland erinnert, wo die Berge ebenfalls ins Wasser zu sinken scheinen.

Wie schnell man sich an die örtlichen Institutionen gewöhnt: Das Öffnen der Bäckerei mit den frischen Brötchen gehört dazu; das Glockenspiel des nahen Stifts: vierstrophig; feierlich und beschwingt-hymnenhaft zugleich; wie eine Mixtur aus Verdi und Mozart. Ab sieben Uhr morgens läuten halbstündig die Kirchenglocken der beiden Kirchen des Ortes: die eine etwas zu früh; die andere ein wenig zu spät. Dazwischen hört man von Ferne die Glocken von San Guilio. Als hätten sie sich abgestimmt. Noch eine Besonderheit: Die halben Stunden werden nicht wie bei uns durch einen Glockenschlag, sondern stets mit der vollen Stundenzahl und einem hellen Gong angekündigt, also: um 12.30 Uhr mit zwölf Glockenschlägen und einem abschließenden kurzen „bing“.
Der tägliche Gang ins Tabaccaio wird zur Gewohnheit. Manchmal gehen wir mehrfach am Tag; die Nonnen auf der Promenade gehören zum Alltagsbild; die Boote mit den Touristen, die den Ort anfahren und schon von weitem sich hupend ankündigen; die Eisdiele mit ihren seltsamen Öffnungszeiten: sie schließt um 19.30 Uhr und öffnet wieder um 20.45 Uhr; in der Zwischenzeit essen die Italiener zu Abend. Italien ist das Land der Eis-Enthusiasten: ohne das abschließende Eis wäre jedes Menü unvollkommen.

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