Buch

Leseproben:
Lesespuren. Notizen zur Literatur


aus: Bertolt Brechts Dreigroschenroman

„Es sind Reden dieser Art, die Macheath als einen gewieften Ideologen und Geschäftsmann ausweisen, der auf der Höhe der Zeit ist. Im Dreigroschenroman sind die Stellen, an denen Macheath seine Ansprachen, Plädoyers oder Bekenntnisse hält, kursiv gedruckt: man könnte sie als das gesammelte programmatische Wissen des Macheath bezeichnen – ein Wissen, das aus den Erfahrungen des unerbittlichen Konkurrenzkampfes unter kapitalistischen Bedingungen resultiert. Dieses Wissen beruht auf zwei wesentlichen Voraussetzungen: der Fähigkeit zum dialektischen und plumpen Denken.
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Der Dialektik bedarf es, um die immanenten Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft zu analysieren. Macheath bekommt die Dialektik im alltäglichen, brutalen Konkurrenzkampf ums Überleben geradezu eingepaukt (Marx). Oft sind es scheinbar aussichtslose Situationen, denen Macheath sich gegenüber sieht und die ihn zu schärfstem Nachdenken zwingen. Die gesellschaftlichen Verhältnisse unterliegen einem ständigen Formwandel. Sie werden zunehmend undurchsichtig und zwingen die handelnden Personen zu Verhaltensweisen, denen nur die stärksten unter ihnen gewachsen sind. Seine Reden erweisen Macheath als gelehrigen Schüler. Und er weiß, wie man reden muss: vor den Mitgliedern seiner Bande ebenso wie vor Geschäftsleuten und Bankern: stets findet er die richtige Sprache. Macheath weiß um die Sehnsüchte der armen Leute ebenso wie er ein Gespür für den Bedarf an ideologischen Phrasen entwickelt, mit denen die Herrschenden ihre Geschäftspraktiken verbrämen.“

aus: Peter Kurzeck: Bekenntnisse eines Nonkonformisten

„Es ist Kurzecks Debütroman, 1979 vorgelegt, wahrscheinlich nach der Entlassung aus achtjähriger Haft geschrieben. Das Werk liest sich wie ein Bekenntnis – geschrieben aus dem Gefühl tiefster Verzweiflung. Hier schreibt ein Gescheiterter und Verlorener, gescheitert allerdings nur unter der Maßgabe bürgerlich-normalbiographischer Wohlanständigkeit, die alles, was aus ihrem Rahmen fällt, gnadenlos an den Pranger stellt. Und das erzählende Ich oder das Du oder Er – heißen sie nun Plaschko oder zum Schluss Alexander Zabrowsky – liefert dem Normenkorsett des durchschnittlichen Spießers reichliche Angriffsfläche: vom Schulabbruch über den Suff bis zum Banküberfall. Aber es ist nicht einfach nur die Biographie eines Delinquenten, dessen Verhalten sich durch Abweichung in Permanenz auszeichnet. Es ist auch die Geschichte einer Verweigerung gegenüber den gesellschaftlichen Institutionen und vor allem den diesen Institutionen konformen Verhaltenserwartungen. Hier schreibt ein Verrückter oder besser noch ein Entrückter, Verstörter, der aufschreit und aufbegehrt, obwohl er als Einzelner keine Chance gegen die Übermacht bürgerlicher Ordnung und ihrer Wertmaßstäbe hat. Aber Anpassung, Unterwerfung, Wohlverhalten ist dem schreibenden-reflektierenden-bekennenden Ich-Du-Er noch viel unmöglicher als abzuweichen und aufzubegehren. So hat die Geschichte eines Gescheiterten etwas beklemmend Alternativloses und Zwingendes. Hier geht ein Genie mit Notwendigkeit in die Irre.“



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