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Leseprobe „Das Haus des Dichters“
Vor langer Zeit hatte ich einen Traum.
Ich stehe im dichten Wald und blicke hinüber zu einem alten Haus mit eisenfarbenen Wänden. Es ist tiefe Nacht, und die Sonne scheint. Vor kurzem bin ich gestorben. Vielleicht ist deshalb alles so still.
Wie viele Sommer steht es schon da, das geheimnisvolle Haus. Wie viel Freude und Trauer hat es gesehen. Immer wenn jemand starb, wurde es neu gestrichen. So auch jetzt, wo ich gestorben bin. Ich wünsche mir die Farbe Rot. Rot für Feuer und Liebe.
Das offene Gelände ist seit langem verwaist. Früher soll es hier einen Garten gegeben haben. Vor meiner Zeit. Jetzt ist es der Herrschaftsbereich des Unkrauts. Über dem ver-wilderten Garten fliegen große schwarze Vögel hin und her; wie Schatten, die sich vergrößern und wieder zusammenziehen. Sie grüßen von einem, der vor meiner Zeit hier gewohnt hat.
Jetzt kommt das Haus mir vor, als habe ein Kind es gemalt. Die Wände schräg und die Tür geöffnet, als würde jemand bitten: Tritt ein, hier ist noch ein Platz für dich frei. Über dem Dach kommt Unruhe auf; doch die Wände des Hauses stehen ganz friedlich da. Man hat sie mit bunten Bildern geschmückt, deren vergoldete Rahmen die Motive zu bändigen scheinen. Aber das scheint nur so. Als ich genauer hinschaue, bemerke ich, dass die Bilder aus den Rahmen treten. Sie wollen in die Welt hinaus.
Ich schaue in den weiten Horizont einer Sommernacht. Aus dem Wald ertönt der Ruf eines Käuzchens. Lockruf und Sehnsucht in einem. Es ist an der Zeit. Meine Ahnung wird zur Gewissheit: noch bevor die Nacht vorüber ist, muss ich mich entschieden haben. Wofür, das weiß ich nicht.
Ich erinnere mich noch an die ersten Eindrücke, als ich im Dorf ankam: Ich setzte mich auf die Bank unter der Linde und sah auf den Ort. Die Häuser lehnten aneinander, als müssten sie sich gegenseitig stützen. Heiß und still lag die Dorfstraße da. Sie kann nicht weglaufen, weil die Häuser sie bei Tag und Nacht bewachen, dachte ich bei mir. Von der Dorfstraße führt eine kleine Nebenstraße in den unteren Teil des Dorfes. Und so eng die Gasse auch sein mochte, so wurde doch jedes Haus an diesem Sommertag von ein wenig Sonne beschienen. Selbst die Steine schienen zu lächeln. Windstill war es, als ob man den Atem angehalten hätte. Keine Wol-ke am Himmel. Es gibt solche Tage, so hell, so weit, so still. Es ging auf Mittag zu. Die Häuser standen wie eingeschlafene Posten da. Ich saß noch lange und hatte das Gefühl angekommen zu sein.
Auch an den ersten Schnee erinnere ich mich. Es hatte die ganze Nacht über geschneit. Die Schneemassen drückten schwer auf die Zweige der Fichten. Wie entkräftet hingen sie herab, als würden sie unter ihrer Last ächzen. Dagegen wirkten die vielgestaltigen, bizarren Astgebilde der Lärchen, als wären sie von einem Zuckerguss überzogen. Die Büsche schwankten leicht im Wind. Wie tanzende Eisbären. Ich blickte auf eine Märchenlandschaft, und eine mir bis dahin unbekannte Stille breitete sich aus. Ich begriff augenblicklich: auch die Stille braucht ihren Raum.
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