Leseproben:
Vor allem die Briefe aus der Zeit um 1968 geben einen Eindruck von der Dynamik und Dramatik der gesellschaftlichen Veränderungen wieder. Aber 1968 war auch ein entscheidendes Datum für den persönlichen Aufbruch: Joke machte als Erster in unserer Familie das Abitur auf dem Zweiten Bildungsweg und begann sein Studium. Klaus nahm als damals Fünfzehnjähriger die politischen Ereignisse bereits sehr bewusst wahr; nicht zuletzt deshalb, weil er durch die Briefe und Schilderungen von Joke immer nahe am Geschehen dran und gut informiert war. Er war der Erste von uns, der auf dem „normalen“ Weg das Abitur machte und studierte. Wir beide waren keine herausragenden oder gar fleißigen Schüler; aber uns war bewusst, dass wir uns nur über den Weg der Bildung weiterentwickeln konnten. Dabei profitierten wir von den Bildungsreformen der 1960er Jahre, die es Arbeiterkindern erleichterten, das Abitur zu machen. Bildung war die Voraussetzung dafür, dass wir begannen, uns für Dinge zu interessieren, die uns zuvor verschlossen waren. Das gilt insbesondere für die Literatur und Malerei. Bei uns zu Hause gab es keine Bücher oder Bilder an den Wänden. Dass wir einmal selbst schreiben oder malen würden, war aus der Sicht von damals ziemlich utopisch. Wir versuchen in dem Buch, unsere Wege dorthin nachzuvollziehen. Unsere Erinnerungen erzählen wir in Form von Reflexionen und Geschichten; wohl wissend, dass dies nur Mosaiksteine sind und die Wirklichkeit viel komplexer und widersprüchlicher war. Das Erzählen von Geschichten soll das Ganze anschaulicher machen und verhindern, dass wir unseren Werdegang als eine logische oder kontinuierliche Entwicklung darstellen. Dass wir das Erinnerte durch die Brille unseres heutigen Selbstbildes betrachten, ist nicht zu ändern. So funktioniert Erinnerungsarbeit; sie ist immer subjektiv, weil das Bild, das wir von uns haben, nur so entsteht oder bestätigt wird. Das Buch gliedert sich in 5 Teile:
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