Leseprobe Lese ein Interview mit dem Philosophieprofessor Herbert Schnädelbach, den ich noch aus Studienzeiten kenne. Er äußert sich über die missverständliche Verwendung des Begriffs westliche Werte bzw. westliche Wertegemeinschaft, die unsere Politiker und Medien so gern verwenden, um sich gegen fremde Einflüsse zu immunisieren. Er sagt: Zunächst sind Werte von den Normen abzugrenzen. Das wird oft unterlassen, und man behauptet dann, wir seien eine Wertegemeinschaft, aber das stimmt nicht. Unser Grundgesetz ist eine normative Ordnung, und bei Normen geht es um das, was geboten, erlaubt oder verboten ist; das aber ist bei Werten nicht der Fall. Werte sind dasjenige, das wir schätzen. Sie schreiben uns nichts vor. Deshalb ist es nicht ungefährlich, unsere freie Gesellschaft als Wertegemeinschaft zu verstehen. Werte sind immer umstritten, Bewertungen immer die Sache von Einzelnen oder Gruppen. * Der letzte Tante-Emma-Laden in unserem Veedel schließt. 40 Jahre lang hat die jetzt 75jährige Frau Bunsen den Laden geführt. Wir nannten sie nur unsere Fründin. Kein Einkauf bei ihr, ohne ein kleines Schwätzchen. Sie fragte nach unserem Häuschen in de Berje und sogar nach dem Schreiben; ich hatte ihr eines Tages das Tierbuch mitgebracht, auf das sie hin und wieder ansprach. Der Laden war wegen seiner kommunikativen, familiären Atmosphäre beliebt. Oft trafen hier ältere Menschen zusammen, nicht so sehr wegen eines Einkaufs, sondern um zu reden. Fast immer war jemand da, wenn man zu ihr kam. Es gab für die Älteren einen Stuhl zum Sitzen und es konnte passieren, dass man ganz vergaß, was man eigentlich einkaufen wollte: ihre stets frischen, weißen Eier, die sie aus einer sicheren Quelle bezog; ihren gekochten Schinken oder den „Holländer“. Und natürlich gab es täglich frische Brötchen. Selbst unter den Schülern des nahegelegenen Gymnasiums hatte sie ihre Stammkunden. Scherzweise nannten diese ihre Schule Frau-Bunsen-Gymnasium. Dieses Stück Veedel und damit Heimat geht jetzt verloren und damit ein Ort der Begegnung mit einer stets freundlichen Frau, die trotz ihrer zunehmenden körperlichen Gebrechen immer ein offenes Ohr für die Anliegen anderer hatte. Wir werden sie vermissen. *
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