Leseproben „Opas Welt“ Ich sehe ihn noch sitzen. Hinter der halb geschlossenen Gardine. Auf seinem Thron. Einem bequemen Lehnstuhl. Mittags und am späten Nachmittag: Die Mütze auf dem Kopf. Ick mutt mien Parade offnehmen, pflegte er zu sagen. Die Werftarbeiter hatten ihre Mittagspause oder Feierabend. Sie strömten eilig und in Scharen an dem Haus vorbei, in dem wir wohnten. Fast alle schauten hoch und grüßten. Einige legten die Hand an den Schirm ihrer Mütze. Salutier-ten gewissermaßen. Opa grüßte zurück. Huldvoll, majestätisch. Grüßte einer etwa nicht, be-kam dieser sein Fett weg. Nun kiek hum, de Aap. Bemerkte der sein Missgeschick dann doch noch, kam das erlösende: Aha, dat wull ick ook meenen. Viele Jahre hat Opa Murk an diesem Platz verbracht. Hinter der Gardine – etwas versteckt – stand meist ein Bierglas. Auch die geliebte Pfeife fehlte nicht. Die erste hatte er schon kurz nach seiner Konfirmation bekommen. Oft genug schlief er auf seinem Stuhl ein. Dann lag die abgebrannte Pfeife samt Asche auf dem Boden. Weckte man ihn, war er tief erschrocken. Das ganze Haus hätte abbrennen können. Denke ich an meinen Opa, so denke ich an die vielen Geschichten, die er immer und immer wieder erzählte. Die meisten habe ich behalten. Andere haben meine Schwester und Brüder erinnert. Alle gemeinsam sind wir somit die Autoren dieser Opa-Erinnerungen. Als er längst gestorben war, schauten die Vorübergehenden immer noch hoch zum Fenster, wo er so lange gesessen hatte. Von hier aus hatte er einen guten Überblick. Viele kannte er aus seiner Zeit auf der Werft. Jahrzehnte hatte er dort gearbeitet. Die tägliche Parade war sei-ne Art von Verbundenheit mit den ehemaligen Kollegen. Während diese vorüber zogen, sin-nierte er über den ein oder anderen. Oft sorgenvoll, vielfach aber auch mit spöttischem Unter-ton. Für jeden hatte er seinen Spruch. Der eine war kein guter Arbeiter. Der andere politisch unzuverlässig. Wiederum ein anderer hatte ihn auf die eine oder andere Weise enttäuscht.
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