Buch Leseprobe "Gespräch mit einem langen Schatten"

Joel Fries war zwanzig Jahre alt, als er den Zug bestieg, der ihn auf eine lange Reise führte. Bis der Zug abfahren würde, war noch Zeit. Er sah sich nach einem Platz um und setzte sich schließlich in ein leeres Abteil. Auf einen Fensterplatz. Dann überließ er sich seinen Gedanken. Die Zeit bis zur Abfahrt des Zuges kam ihm unendlich vor. Die Anspannung der letzten Tage erfasste ihn erneut und dieses Mal mit einer Intensität, die ihn zu zerreißen drohte. Noch konnte er alles rückgängig machen. Über einen langen Zeitraum war eine Entscheidung in ihm gereift. Immer wieder hatte er sich hinterfragt. Nach Anhaltspunkten gesucht, die ihm die Entscheidung erleichtern würden. Bis ihm klar wurde, dass es keine Gewissheit gab. Er begab sich auf unbekanntes Terrain. Auch war niemand da gewesen, der ihm hätte raten können. Er hatte eine Wahl getroffen. Im tiefsten Innern wusste er: es gibt kein Zurück. Erst allmählich begriff er, was dies bedeutete: er hatte nur diese eine Chance. Eine weitere würde es nicht geben.

Er erinnerte sich an die Situation, die letztlich seine Entscheidung herbeigeführt hatte: Das war jener Augenblick, als er vor dem Amtszimmer des Vorgesetzten gestanden hatte. Er war plötzlich wie gelähmt gewesen. Der Schweiß brach ihm aus. Eine ihm bis dahin unbekannte Beklemmung befiel ihn. Er fürchtete sich davor, das Zimmer zu betreten. Dabei hatte er lediglich eine Akte zu überbringen, die er zuvor aus der Registratur entliehen hatte. Eigentlich eine Routinehandlung. Aber diesmal war alles anders: er hatte plötzlich das Gefühl, etwas Falsches zu tun. Eine Art Schamgefühl stieg in ihm auf. Er sah sich plötzlich durch die Augen eines Anderen. Zu einem Nichts herabgewürdigt. Je länger er unschlüssig dastand, empfand er ein Schweigen um sich herum, das ihn niederdrückte. Er fühlte sich wie schuldig. In jedem Moment konnte ein schallendes Gelächter ertönen, das ihm galt. Lähmendes Entsetzen ergriff ihn. Er legte die Akte vor die Tür und verließ fluchtartig das Gebäude. Nachdem er eine zeitlang ziellos durch die Straßen der Stadt umhergeirrt war, suchte er ein Café auf und versuchte sich klar zu werden, was mit ihm geschehen war. Zunächst war er nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Aber nach und nach fing er sich. Er erinnerte sich wieder an die Situation vor der Tür des Vorgesetzten: Jetzt wurde ihm plötzlich klar, was sie zu bedeuten hatte: es war die Weigerung gewesen, mit seinem Leben weiterzumachen wie bisher. Sein bisheriges Leben kam ihm auf einmal vor wie eine in die Länge gezogene Schmach.

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Der Zug fuhr an. Wie in einem Film sah er auf die Stadt zurück, in der er bisher gelebt hatte. Die Häuser und Straßen entschwanden seinem Blick und schienen sich aufzulösen. Als der Zug dröhnend die alte Eisenbahnbrücke überquerte, war ihm, als würde der ohrenbetäubende Lärm ihn zerreißen. Als das donnernde Getöse endlich vorüber war, sah er sie wie einen Schatten an sich vorbeihuschen: die vom Ruß geschwärzte Siedlung vor der Werft, in der er aufgewachsen war. Ihm war, als hätte er für den Bruchteil einer Sekunde auch ihn erblickt, hinter dem Fenster sitzend: den Geschichtenerfinder, der mit seinen Erzählungen seine kindliche Phantasie beflügelt hatte. Er schien ihm nachzuschauen. Eine nie gekannte Trauer überkam ihn. Ihm wurde klar, dass er all das hinter sich ließ und ins Ungewisse fuhr.




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