Buch Leseprobe "So fern - so nah"

"Als ich das Gewässer des Schwanenteichs umfahre - überall Gruppen von Spielenden oder einfach nur Ausruhenden - entdecke ich zum Wall hin eine kleine Furche in der ansonsten dicht bepflanzten Anhöhe: unsere alte Rodelbahn - deutlich sichtbar an dieser steilsten Stelle, die wir damals ausmachen konnten. Damals? Das war vor nunmehr fünfzig Jahren - man mag es kaum glauben, so gegenwärtig ist mir die Situation plötzlich. Ich habe mich einmal an dieser Stelle mit dem Schlitten überschlagen und mir dabei furchtbar weh getan. Fast ist mir, als fühlte ich den Schmerz immer noch."
(Aus: So fern - so nah. Bericht über eine Reise nach Emden im Frühling 2008)


"Es war einer jener Tage, an denen er nun schon seit geraumer Zeit vor sich hindämmerte. Alles Mögliche ging ihm durch den Kopf. Bilder, die zu undeutlichen Konturen verschwammen. Traumfetzen. Ungeordnete Gedanken. Dies und das. Nichts berührte ihn wirklich. Er liebte diesen Zustand zwischen Schlaf und Erwachen. Es war seine produktivste Zeit. Er vergewisserte sich seiner selbst. Ließ ein wenig Wirklichkeit an sich heran. Aus einer längst vergangenen Zeit. Eine unbestimmte Erwartung erfüllte ihn. Ohne Richtung. Manchmal stieg irgendeine Erinnerung in ihm auf. Wie aus einer zeitlosen Ferne. Nebelhafte Gebilde. Menschen oder Ereignisse. Worte oder Gesten. Er versuchte gar nicht erst, deren habhaft zu werden. Zu oft hatte er erlebt, dass jedes Bemühen darum zwecklos war. Die Anstrengung hätte seine Bilder zerstört. Und vor Gefühlen fürchtete er sich. Sie ließen sich nicht beherrschen. Kamen wie sie wollten. Verursachten Unwohlsein. Unruhe. Doch zuweilen war ihm auch, als würde die Weite seiner Gedanken das ganze Universum umfassen. Als würde er fortgetragen aus der Enge der ihm vertrauten Welt. Ganz unmerklich. Die Zeit schien dann stillzustehen. Alles ruhte in sich."
(Aus: Der Tagträumer)


"Fast täglich führt uns unser erster Gang auf den Friedhof Montparnasse. Die Atmosphäre dieses Friedhofs ist in vieler Hinsicht ungewöhnlich. Teilweise pompöse Grabmäler. Viele individuell gestaltete Gräber, versehen mit kleinen Symbolen des Andenkens, der Liebe. Gedichte, Briefe, Gegenstände aller Art. Ein ca. 1,50 m hoher, kunstvoll gestalteter Vogel von Niki de Saint-Phalle. Auf dem Grab von Susan Sontag liegen wunderschöne weiße Rosen. Auf dem von Samuel Beckett liegen zwei Bananen. Kleine Figuren oder Spielzeuge auf dem von Sartre und de Beauvoir. Viele der Gräber sind mit Bildern versehen. So auch das von Charles Baudelaire, das wir fast übersehen, so unscheinbar ist das Grab - wenn nicht das kleine Bild von ihm gewesen wäre."
(Aus Pariser Notizen)


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